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Das Netzwerk Streuobst Mössingen macht sich seit Jahren Gedanken über die Natur- und Kulturlandschaft rund um Mössingen. Wie lässt sich diese einzigartige Landschaft zum Nutzen von Flora, Fauna und Mensch erhalten? Vielfältige gut angenommene Initiativen rund ums Streuobst – vom Apfelfest über die Streuobstmarke „Der Mössinger“ bis hin zu den Aktivitäten vieler Mössinger bei der Apfelwoche –, vor allem aber die beharrliche Arbeit vieler Bürgerinnen und Bürger in den Streuobstwiesen selbst belegen, dass Mössingen diese Landschaft will und braucht. Dennoch muss man sich immer wieder fragen, wofür und mit welchem Ziel diese Arbeit geleistet wird. Die hier folgende „Streuobstwiesion“ aus dem Jahr 2013 versucht unsere Überlegungen in einer kleinen Geschichte zusammenzufassen.

Im Jahr 2023 zieht die Familie Schmidt nach Mössingen. Ihr Berufsweg hat sie nach Tübingen geführt, die Immobilien‑ und Mietpreise sind ihnen dort aber zu hoch. In der Großen Kreisstadt am Albtrauf dagegen haben sie eine erschwingliche Mietwohnung gefunden und auch das Umfeld sagt ihnen zu: Komplette Infrastruktur, alle Schulmöglichkeiten für die Kinder, ein reiches Sport- und Kulturangebot (sogar Kino und Theater gibt es hier!) und vor allem: viel Natur.

Schon bei ihrem ersten Besuch haben sie entdeckt, dass Mössingen von einem Streuobstgürtel umgeben ist, sie wissen aber noch nicht, dass sie dort bald selbst ein „Stückle“ haben und bewirtschaften werden. Denn als Karla Schmidt zur Ummeldung ins Rathaus der Blumenstadt geht, erhält sie neben den notwendigen Papieren nicht nur ein Tütchen Mössinger Blumensamen geschenkt, sondern auch einen Flyer, auf dem sich Mössingen seinen Neubürgern vorstellt.

Als sie abends mit ihrem Mann Torsten die Unterlagen durchliest, staunen die beiden nicht schlecht: „Wir haben ihnen ihr eigenes Streuobststückle reserviert. Es liegt oberhalb des Panoramawegs Streuobst, hat eine wunderbare Aussicht und die Pacht fürs erste Jahr ist bereits bezahlt. Wenn Sie Hilfe beim Mähen der Wiese oder beim Schneiden der Bäume benötigen, wenden Sie sich ans Streuobstzentrum in der Pausa.“

Bei nächster Gelegenheit besuchen die Schmidts die Pausa. Auf dem alten Fabrikgelände finden sie das Pausa-Stoffmuseum, die Dauerausstellung zum Mössinger Generalstreik und ein ganzes Arsenal an Streuobstaktivitäten: Neben dem Streuobstcafé in und vor der alten Fabrikkantine, das von der örtlichen KBF betrieben wird, gibt es einen „Saftladen“ mit Streuobstprodukten – vom sortenreinen Edelbrand über Äpfel der Region bis hin zu Spielzeug, das aus Streuobstholz gefertigt wurde. Schräg gegenüber befindet sich das Haupt­informations­zentrum des Schwäbischen Streuobstparadieses (existiert mittlerweile). Und hier erfahren die Schmidts, warum Mössingen nicht nur Blumenstadt, sondern auch „Streuobsthauptstadt“ ist. Außerdem finden sie hier Tipps, was alles bei der Pflege ihres neuen Stückles zu beachten ist – viel weniger, als sie gedacht hatten.

Abends rufen sie die Webseite www.moessinger-streuobstkataster.de auf, um sich noch genauer zu informieren. (>> umgesetzt) Sie finden ihr Stückle gleich und erfahren, dass dort ein Kirschbaum, vier Apfelbäume, zwei Zwetschgenbäume und ein Birnbaum stehen, deren Pflegezustand gut ist. Es gibt auch noch Platz für zwei Neupflanzungen (was dabei zu beachten ist, findet sich hinter einem weiteren Link). Das Grundstück links von ihnen wird vom Patenprojekt mit Spendengeldern betreut, das rechts ist noch frei. Torsten schickt gleich seinem Kollegen Meier den Link zu, weil er denkt, dass auch dessen Familie Interesse haben könnte. Es wäre schön, wenn man sich dort öfters treffen und zusammen arbeiten könnte.

Karla Schmidt hat noch Bedenken: „Wir haben noch nicht mal einen Rasenmäher. Und sowieso keinen Platz für irgendwelche Geräte. Wie soll das gehen?“ Torsten klickt weiter. „Wir können etwas mehr Pacht zahlen, dann wird das Stückle für uns gemäht.“ Er ist ein bisschen enttäuscht. „Eigentlich wollte ich zum Ausgleich für den Bürojob gerne etwas körperlich arbeiten.“
Aber Karla hat schon weitergelesen: „Schau mal, hier steht was von einem Maschinenring.“ Tatsächlich kann man gegen ein geringes Entgelt Balkenmäher, Leitern und alle notwendigen Utensilien leihen. (>> umgesetzt) Außerdem gibt es ein „Streuobstmobil“, das entweder gemietet oder samt Besatzung angefordert werden kann. „Da kriegt man en passant Hinweise zum richtigen Mähen und Schneiden“, liest Karla. Und das Landschaftspflegematerial wird zu bestimmten Terminen direkt von der Wiese abgeholt. „Oh, schau mal! Unsere Wohnung wird sogar damit geheizt.“

Am Wochenende schauen sich die Schmidts in ihrer neuen Stadt um. Natürlich wollen sie erst einmal ihr neues Stückle anschauen und wandern zum Panoramaweg Streuobst. (>> umgesetzt) Der führt vom Biergarten am Schützenhaus bis zum Vogelschutzzentrum und beschreibt nicht nur die Geschichte, Kultur und Eigenheiten der Landschaft, sondern bietet auch einen tollen Blick über ihre neue Heimat. An beiden Enden des rollstuhltauglichen Weges finden sich Infoboxen mit mehrsprachigen Booklets und sogar einem in Brailleschrift. Mössingen wird nicht umsonst auch „Inklusionsstadt“ genannt.

„Schaut mal“, ruft Sohn Kai da plötzlich, „eine Schaukel!“ Tatsächlich ist der Panoramaweg Streuobst nicht nur Lehrpfad; die Kinderstadt Mössingen bietet auch den „längsten Spielplatz Baden-Württembergs“. Alle paar hundert Meter finden sich eine Schaukel, Rutsche, Wippe, Kletterstation und vieles mehr, alle aus Streuobstholz hergestellt. Die Kinder sind begeistert und die Eltern haben Zeit genug, sich alle Tafeln gründlich anzuschauen. Dort erfahren sie unter anderem, dass in Mössingen verschiedene Ausbildungen zum Landschaftsführer angeboten werden, darunter auch eine zum Energie­land­schafts­führer. Diese Guides führen nicht nur über einen der vier Premiumwanderwege, sondern auch zu den weithin bekannten Bergrutschen – schließlich ist Mössingen Deutschlands einzige Bergrutschstadt.

Für die folgenden Wochenenden nehmen sich die Schmidts vor, die Museen der Stadt zu erkunden: Von der Messerschmiede über das Streibsche Küfereimuseum bis hin zum Rechenmacherhaus. Und natürlich nochmal die Pausa. „Hier kann man öfter herkommen“, meint nicht nur Torsten, sondern auch die Kinder, die beim ersten Mal gar nicht alle Spielinfostände im Hauptinformationszentrum ausprobieren konnten.

Außerdem wollen sie sich im Saftladen erstmal gründlich mit lokalen Produkten der Marke „Mössinger“ eindecken. Hier gibt es eine Genossenschaft, über die das Mössinger Obst in vielfältiger Weise verwertet wird. Da bleibt auch noch genügend für die Touristen übrig, die hier seit einigen Jahren vermehrt Urlaub machen oder gezielt mit Bussen anreisen, um einen Tag in und um die Albtraufstadt herum zu verbringen. „Das Streuobsthotel in Talheim ist jedenfalls oft voll“, erfahren die Schmidts bei der freundlichen Auskunft im Zentrum, als sie sich erkundigen, wo ihr Besuch übernachten kann, dem sie von ihrer neuen Heimat vorgeschwärmt hatten.

„Ich hätte nicht gedacht, dass das Streuobst so wichtig ist für Mössingen“, hakt Karla nach, doch die Auskunft bestätigt das. „Mittlerweile haben wir nicht nur eine richtig gute Gastronomie und Hotellerie, auch der Wohnmobilplatz ist stets gut belegt.“ Aber nicht nur der Tourismus hat Arbeitsplätze gebracht, erfahren sie dann. Ein Schreiner, mehrere Landschaftspfleger, neue Mostereien und Brennereien, zwei Schäfer, aber auch Kunsthandwerker verdienen ihr Geld unmittelbar aus dem Streuobst.

„Mir gefällt die Stadt, in der wir da gelandet sind“, meint Torsten auf dem Nachhauseweg.“ – „Mir auch“, rufen beide Kinder. – „Und in vier Jahren ist hier sogar die Gartenschau“, ergänzt Karla, „hier sind wir richtig.“

Netzwerk Streuobst Mössingen, Juni 2013